Praxis für Psychosomatische Medizin
Psychotherapie - Psychoanalyse


Dr. med. Bernhard Palmowski, Berlin

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Berliner Ärzte, Bd. 31, Heft 7, 20-21 (1994)

Das erlösende Ende der Odyssee

Ambulante Psychotherapie psychosomatisch Kranker

Von Bernhard Palmowski


Zusammenfassung. Psychogene Erkrankungen in ihrer psychosomatischen und psychoneurotischen Ausprägung zählen zu den häufigsten Leidenszuständen in den westlichen Industrieländern. Jeder vierte Erwachsene in der Allgemeinbevölkerung ist hiervon betroffen. Jeder zehnte bedarf einer intensiven ambulanten Psychotherapie. In der Praxis des Kassenarztes, sei er nun Allgemeinmediziner oder Facharzt, liegt der Anteil psychogen Erkrankter bei dreißig bis vierzig Prozent. Keine andere Berufsgruppe wird von psychosomatische Kranken wohl so häufig in Anspruch genommen wie gerade Ärzte. Entsprechend hoch ist die Verantwortung für den weiteren Lebensweg dieser Menschen.

 

Noch vergehen durchschnittlich sieben Jahre, bis ein psychosomatisch / psychoneurotisch erkrankter Patient schließlich den Weg zur erforderlichen qualifizierten Psychotherapie findet. Nicht selten geht eine Odyssee durch zahlreiche Praxen und andere medizinische Einrichtungen voraus.

Krankheitstypisch ist hierbei das häufig gleichzeitige oder abwechselnde Auftreten körperlicher und seelischer Syndrome. Bei vielen Patienten wechselt die aktuelle klinische Leitsymptomatik im Verlauf. So entwickelt ein ursprünglich herzphobisch erkrankter Lehrer eine invalidisierende Alkoholkrankheit, die von chronischen Kopfschmerzen geplagte Sekretärin eine schwere Depression und die in einer pathologischen Beziehung vernichte Studentin nach der letztendlich Trennung eine Colitis ulcerosa.

Epidemiologische Untersuchungen belegen die alltägliche Erfahrung vieler niedergelassener Ärzte, daß es häufig Krankheitsbilder aus dem Formenkreis der depressiven und der Angstneurosen sind, die, sowohl in ihrer psychischen als auch gerade in ihrer somatisierten klinischen Erscheinung, Patienten zum Arzt führen. Vielfach wird dann von vitalisierter Depression" oder "larvierter Phobie" gesprochen.


Zwei Fallbeispiele

Zahlreiche depressive Patienten leiden neben den bisweilen eher im Hintergrund stehenden seelischen Beschwerden an vielgestaltigen körperlichen Symptomen wie Kopf-, Gesichts- oder Zahnschmerzen, Obstipation, Magenbeschwerden sowie Glieder- und Rückenschmerzen. Die Abgrenzung von sekundär somato-psychischen depressiven Zustandsbildern kann sich mitunter schwierig gestalten, da natürlich auch primär organische Erkrankungen wie ein maligner Tumor, ein Diabetes mellitus oder eine dialysepflichtige Nierenerkrankung mit einer depressiven Begleitsymptomatik einhergehen können. In jedem Fall darf bei multiplen, organisch nicht faßbaren Körpersymptomen, insbesondere wenn sie mit Schmerz verbunden sind, immer auch an eine somatisierte Depression gedacht werden. Dies soll anhand eines kurzen Fallbeispiels verdeutlicht werden.

Patientin 1

Eine 42jährige angestellte Apothekerin leidet seit Jahren unter quälenden, zum Teil täglich rezidivierenden Kopfschmerzen. Zahlreiche neurologische Untersuchungen incl. Lumbalpunktion, CT und einer Kernspintomografie bleiben ohne wegweisenden organischen Befund. Es mehren sich Phasen von Medikamentenmißbrauch - schließlich brechen Stimmung und Antrieb vollends ein, und die Patientin glaubt, mit einem Tablettensuizidversuch ihrer Ausweglosigkeit ein Ende setzen zu müssen. über die Intensiv- und die Krisenstation eines Krankenhauses wird sie anschließend in ambulante Psychotherapie vermittelt. Der Behandlungsverlauf zeigt, daß sich die ledige und kinderlose Patientin mit zunehmender Intensität auf das Feld beruflicher Leistung verlegt hatte, um beständig andrängende Gefühle von Einsamkeit, Leere und Verzweiflung in Schach zu halten. Da sie sich untergründig wenig liebenswert und anziehend erlebte, setzte sie alles daran, sich bei ihrem Chef unentbehrlich zu machen und wurde schließlich seine zweite Hand. Aufgrund ihrer Gehemmtheit in finanziellen Dingen blieb dieser Einsatz jedoch ohne entsprechenden Ausgleich. Als der Inhaber schließlich eine neue Kraft einstellt, sieht die Patientin ihre mühsam aufrechterhaltene, vital benötigte Position verloren und dekompensiert. Sie hatte als ältestes von fünf Geschwistern, enttäuscht an der überforderten Mutter, bereits früh darum gekämpft, wenigstens beim Vater als Hilfe im kleinen Handwerksbetrieb Anerkennung und Liebe zu finden.

Neben Syndromen mit depressivem Hintergrund leiden viele Patienten in der Praxis an Erkrankungen aus dem Formenkreis der Angstneurose. Auch hier findet sich häufig eine begleitende oder sogar überwiegende somatische Morbidität. Klagt der Patient über Angstanfälle, Panikzustände oder allgemeine Ängstlichkeit, bereitet das weitere Vorgehen meist keine größeren Schwierigkeiten. Anders bei eher körperlicher Prägnanz. Von Palpitationen, Herzrasen, Brustschmerzen, Hyperventilation, über Schweißausbrüche, Zittern, Schwindel, Ohnmachten bis zu Übelkeit, Erbrechen, Durchfällen, Harndrang und abdominellen Mißempfindungen reicht das Spektrum. Besonders erschwerend ist das häufige ängstliche Festhalten der Patienten am körperlichen Symptom. Sie sehen oft keine Verknüpfung zwischen Körpersymptom und seelischer Verfassung und erleben jede Vermutung hinsichtlich einer möglichen Psychogenese ihrer Krankheitszeichen als nicht ernst genommen werden oder gar als Verdacht auf Simulation. Hier eine kurze Kasuistik.

Patient 2

Der 28jährige Polizeibeamte leidet seit vier Monaten unter Anfällen von Hyperventilation, Herzrasen und stechenden Brustschmerzen. Darüber hinaus hegt er eine intensive Besorgnis um die Gesundheit seines Herzens. Es handelt sich um einen athletischen, durchtrainierten Mann, der in seiner Freizeit leidenschaftlich Eishockey spielt. Eine umfangreiche Organdiagnostik einschließlich mehrfacher EKGs in Krankenhausaufnahmestationen, zweier Ergometrien und einer in einer Kurklinik auf Drängen des Patienten durchgeführten Coronarangiografie bleibt ohne pathologischen Befund. Daraufhin überweist der Hausarzt den Patienten trotz dessen Bedenken zur psychosomatischen Konsiliaruntersuchung und eventuellen ambulanten Psychotherapie. Während des Erstgesprächs bricht es bei der Frage nach seinen Lebensumständen empört aus ihm heraus: "Alles Psycho oder was!" « Im Verlauf der zunächst nur zögerlich angenommenen weiteren Gespräche zeigt sich dann, daß der seit seinem 21. Lebensjahr verheiratete, kinderlose Patient eine jüngere Kollegin kennengelernt und sich in diese verliebt hatte. Die außerordentlich enge eheliche Gemeinschaft mit seiner acht Jahre älteren, sehr fürsorglichen und häuslichen Ehefrau hatte er bisher in ungetrübter Harmonie erlebt und sich ihr weitgehend untergeordnet. Nun drängen sich sogar Gedanken an Trennung auf und bedrohen seine als lebensnotwendig empfundene Heimatbasis. Die Kindheit des als Einzelkind aufgewachsenen Patienten war geprägt von der überaus engen Anbindung an seine offenbar sehr ängstliche, überfürsorgliche Mutter, die über lange Jahre an von Ärzten als nervös« diagnostizierten Herzanfällen litt. Erst im Verlauf der psychotherapeutischen Behandlung war es dem Patienten möglich, Wünsche nach Autonomie und Selbstentfaltung in seiner Partnerschaft zu verwirklichen.


Diagnostik und Therapie müssen frühzeitig einsetzen

Die ersten Voraussetzungen für eine angemessene Behandlung psychosomatisch/psychoneurotischer Patienten wurde 1967 mit Einführung der Psychotherapie in den Leistungskatalog der Krankenkassen geschaffen. Heute verfügen wir mit dem dreistufigen Modell der psychosomatischen Versorgung im kassenärztlichen Bereich über ein effizientes und im internationalen Vergleich beispielhaftes System. Auf der ersten Ebene, der Primärversorgungsebene, wird die sogenannte psychosomatische Grundversorgung angewandt. Sie kann als qualifiziertes ärztliches Gespräch mit differentialdiagnostischer und begrenzter therapeutischer Zielsetzung von jedem entsprechend ausgebildeten Arzt durchgeführt werden. Die zweite Ebene wird von Ärzten mit der Zusatzbezeichnung Psychotherapie abgedeckt, die in einem bestimmten Rahmen neben ihrem Fachgebiet (Innere Medizin, Psychiatrie und Neurologie, Allgemeinmedizin, Gynäkologie etc.) psychotherapeutisch tätig sind. Die dritte Ebene entspricht der spezialisierten ärztlichen Versorgung durch den Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, den für Psychiatrie und Psychotherapie und Ärzte mit der Zusatzbezeichnung Psychoanalyse. In therapeutischer Hinsicht werden mehrere bewährte und wissenschaftlich geprüfte Behandlungsmethoden eingesetzt. Als psychoanalytisch begründete Verfahren sind hier die analytische und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zu nennen, jeweils als Einzel- sowie als Gruppentherapie, daneben die Verhaltenstherapie in ihren verschiedenen Anwendungsformen.

In jüngster Zeit erleben wir eine intensive Diskussion um die Wirksamkeit verschiedener Psychotherapieverfahren. Nur wenige wissenschaftliche Studien tragen hierzu wirklich harte Daten bei. Aufgrund ihrer weitreichenden gesundheitspolitischen Bedeutung sei an dieser Stelle auf die Ergebnisse der bahnbrechenden Berliner Psychotherapiestudie von A. Dührssen (1962) aus dem Institut für psychogene Erkrankungen der AOK Berlin verwiesen. Ziel dieser umfangreichen katamnestischen Untersuchung war die Überprüfung der Effektivität ambulanter analytischer Psychotherapie, wobei unter anderem die Zahl der durchschnittlichen Krankenhaustage pro Jahr vor und nach Therapie verglichen wurde. Es zeigte sich, daß neurotische Patienten vor ihrer Therapie mit durchschnittlich 5,3 Krankenhaustagen im Jahr häufiger und länger hospitalisiert waren als Rentner mit 4,3 Tagen. Nach Abschluß der Behandlung lagen diese neurotischen Patienten mit 0,78 Krankenhaustagen pro Jahr unter dem Durchschnitt der Versicherten insgesamt mit 2,5 Krankenhaustagen. Die hier untersuchte Therapie stellt somit eine hocheffektive Form der Sekundärprävention im ambulanten Bereich dar.

In der Versorgung psychosomatisch Kranker ist eine früh einsetzende qualifizierte Differentialdiagnostik unter Einschluß biografischer, sozialer und psychodynamischer Aspekte von besonderer Bedeutung. Eine psychotherapeutische Intervention hat die besten Aussichten auf Erfolg, wenn sie früh und ambulant durchgeführt werden kann. Mit ihrer psychosomatischen und psychotherapeutischen Kompetenz tragen die niedergelassenen Ärzte nicht nur zur Vermeidung hoher volkswirtschaftlicher Kosten bei, sondern werden so ihrer Verantwortung für eine rasche Entlastung und dauerhafte Gesundung vieler Patienten gerecht.

Dr. med. Bernhard Palmowski